Der Berlinbabylon Koffer von Johanes Zechner.

 

Johanes Zechner ist ein Reisender. Ein Reisender der Postmoderne, heimatlos umtrieben, immer auf der Suche, ein Leben in den Zwischenorten, kaum hier, schon wieder fort? Nein, kein Reisender dieser Art. Nicht einer, der morgens durch die City von Kairo streift, am Nachmittag die Pyramiden macht und sich abends die Niltour reinzieht. Johanes Zechner ist ein Erkunder, der sich mit den Orten auseinandersetzt, sich ihnen aussetzt. Und er ist ein Kundschafter, denn er bringt von seinen Reisen etwas mit. Keine kleinen goldig glänzenden Eiffeltürme oder geschnitzte Kamele, auch kein Stonehedge zum Selberbasteln oder einen Fernsehturm als Nachtischlampe, er bringt Bilder mit. Und einen Koffer. Bilder in einem Koffer, oder in einer Tasche, in einem Behältnis, in einer Schachtel oder in einem Beutel, meistens jedoch in einem Koffer.

Seit Jahren reist Johanes Zechner von seinem Zentrum Mieger/Kärnten in die Weite und fasst seine Eindrücke in Bilder. Auf diese Weise sind unter anderem Werkgruppen wie 1993 die Kofferarbeit: „in Gottes Küche, Jerusalem“, ein religiöser Koffer aus Irland, 1996 der Afrikakoffer, in dem er sich mit dem Gegensatzpaar Individuum und G esellschaft beschäftigt oder der Texaskoffer über die Geschlechterutopie bei Forrest Bess 1998. Das Reisen ist Bestandteil seiner künstlerischen Arbeit und dabei geht es Zechner nicht um das Mitbringen einer Idee oder dem Miteinbeziehen der fremden Ästhetik, sondern er setzt sich bewußt dem Anderen aus. Der veränderte soziale und ästhetische Kontext dient nicht nur als Inspiration neuer Arbeiten, er wird viel mehr selbst zum Inhalt der Werke. Der aus Klagenfurt stammende Künster konstatiert: „Dinge erfahren sich, wo sie ihre Orte haben.“ Die Bilder seiner Erfahrungen entstehen an ihren Orten und kommen anschließend in den Koffer. Bei Bedarf können sie wie ein chinesisches Rollbild aus dem Koffer ausgepackt und gezeigt werden, aber sie verlieren niemals mehr ihren Ort. Johanes Zechner gibt seinen Bildern ein Zuhause. In einer Welt der Heimatlosen ist es wichtig, daß die Bilder ihre Heimat finden.

 

Aufbruch in den Zwischenraum

 

Nach Jahren, in denen der 50jährige Künstler Bilderkoffer von seinen Reisen mitbrachte, arbeitet er jetzt an einem Koffer ohne Reise, dem Mammutprojekt Berlinkoffer. Seit Oktober vergangenen Jahres lebt er in der Hauptstadt Deutschlands und arbeitet nun an seinem einjährigen Berliner Tagebuch. Er läßt den unpermanenten Zustand des Reiseaufenthalts zur Permanenz werden. Das Besondere der Reise, wo der Eindruck eines Augenblicks direkt festgehalten und umgesetzt werden will, wird für ein Jahr zum täglichen Normalfall. Der Berlinkoffer forciert eine Bilderproduktion enormen Ausmaßes. Johanes Zechner ringt mit der Bilderflut: „Eigentlich sollte man ja ganz aufhören, ... sich verweigern. Aber irgend etwas in mir verweigert sich der Verweigerung.“ 100 Bilder will er bis zum Sommer fertigstellen, bevor er sich in Mieger anderen Projekten zuwidmen wird und anschließend wieder die Arbeit am Berlinkoffer in Berlin aufnehmen wird.

Johanes Zechner erschafft sich einen künstlerischen Diskurs, eine Selbststörung in der er sich bewegt und eine neue Art der Konzentration ergründen will. „Es gibt nichts zu beweisen, aber vieles zu erforschen.“ Der Kärntner betritt diesen Diskursraum in aller Konsequenz, gibt Vorgaben und Stilmittel auf und versucht in seinem Tagebuch sich ganz der Auseinsetzung mit der Stadt hinzugeben. Der Berlinkoffer ist „ein Aufbruch in einen neuen Zwischenraum, in einen Strudel“. In dem Wahnsinn, der sich seit acht Monaten in seinem Atelier abspielt, verliert sich jeder künstlerische Halt. Der selbst auferlegte Zeitdruck und die Intensität der Arbeit lassen persönliche Konventionen verschwinden und setzen direkte Energie unmittelbar frei. Der Künstler tritt in den Hintergrund: „Die Struktur spricht durch mich“, das künstlerische Ich löst sich auf. Der Berlinkoffer ist eine Arbeit die am Abgrund des Scheiterns entsteht. Der fortlaufende Suchprozeß ist ein schmerzlicher, aber der Kärntner erlebt seine zweite künstlerische Pubertät bewußt gewollt und läßt diese ungerichtete Urkreativität in seinen Werken wirken. Der einheitliche Stil verschwindet. Die Bilder des Koffers könnten von einer Künstlergruppe stammen. Damit wird er zu einem Grenzgänger, dessen bildnerische Identität wieder offen ist.

Die verschiedenen Stile dieser Arbeit prallen heftig aufeinander. Erfahrbar werden wird dies aber erst in den Ausstellungen, wenn sich Zechners Bilderkosmos entfalten kann. Das Werk wird zunächst in Berlin zu sehen sein, anschließend in Budweis und in Wien. Das Projekt wird in seiner vollen, wahnsinnigen Dimension sichtbar werden. Dann wird unser Blick gefordert sein, das Ganze nicht aus den Augen zu verlieren und dabei hinreichend Konzentration für das Einzelwerk aufzubringen. Wir müssen eine neue Sehgewohnheit ausprägen, daß die Masse und das Einzelne gleichzeitig sieht. Denn trotz der wütenden Massenproduktion, an der Johanes Zechner täglich seinen Energieüberschuß abarbeitet, genügt jedes Bild seinen Ansprüchen; sie sind alle Teil der Serie und zugleich doch Solitäre. Der Berlinkoffer ist ein Chor der Individuen.

 

berlin. ballung der besten

 

Die Arbeit ist in ihrer Charakteristik und ihrer wahnsinnigen Dimension geprägt von der Stadt, an der sie ensteht. Der Berlinkoffer ist ein Koffer Berlins. Johanes Zechner versucht Berlin von innen heraus wahrzunehmen und zu verstehen. Die Ost-West Insuffizienz und die Aggressivität auf der Straße, die Hast nach dem Neuen und der Haß auf die Veränderung, die Geschwindigkeit und die Ruhe. Zechner hört den Leuten zu, wenn sie sich an der Straßenkreuzung anschreien, in der Kneipe Visionen ausbereiten und in der Suppenküche von ihren Schicksalen berichten. Und er sieht ihnen zu, wie sie mit schmerzverzerrten Gesichtern auf den Fahrrädern durch die Straßen rasen, lattemacchiato trinkend in den Szenecafes im DDR-Retrodesign sitzen oder sich die Ellenbögen in der Straßenbahn gegenseitig unsanft in die Seite schieben.

Johanes Zechner ist ein Spion in meiner Stadt. Ein Eindringling. Er wohnt im Prenzlauer Berg, sein Atelier hat Zechner in einer ehemaligen Polizeistation eingerichtet. Strom gibt es nicht, aber die Heizung bollert das ganze Jahr. Auf dem Hof sind ein Altersheim und ein Fitnesscenter mit Billardsalon angesiedelt worden. Er erzählt von der Verlorenheit und der Zerrissenheit Berlins, dieser zerklüfteten Seele eines Konglomerats, das sich immer wieder selbst sein Zentrum zerstört hat. Für den Kärntner war Berlin immer die „Stadt des Grauens“ mit dem Olympiastadion als Symbol der Nazityrannei. Jetzt will sich die Stadt von all ihrer Historie befreien und Wohnstube einer geschichts- und gesichtslosen Berliner Republik werden. Aber sie ist völlig pleite, zugrundegewirtschaftet. Es ist eine Stadt der Lügen, ein Hort gescheiterter Utopien zwischen wehleidiger Larmoyanz des Postsozialismus´ und postmodernen Hype. Jeder Standpunkt wird vehement verteidigt, die Frequenz ist hoch und alle Kanäle vollgestopft.

 

Die Sprache einer Stadt ist die eines Bildes

 

Der Berlinkoffer ist aber nicht nur ein Ringen mit den Bildern dieser Stadt, sondern auch mit ihrer Sprache. Zechner vergleicht Berlin mit Babylon. Und obwohl in den Straßen nur gelegentlich türkisch, polnisch oder russisch zu vernehmen ist, scheint er Recht zu haben. Berlin ist das Babylon der Sprachlickeit, der Symbole, Gesten und Bilder. Jeder drückt sich hier anders aus: die grillenden Türken in den Parks und die Kids in den sozialistischen Monoblocks; die Politiker in der Betonpalästen der Innenstadt und die Graffitisprüher in den U – Bahnschächten darunter. Eine Stadt, die sich nicht mehr verstehen kann. Der Verlust der gemeinsamen Sprache beginnt mit dem Verlust der gemeinsamen Zeichen.

Zechners Aufbruch in den Zwischenraum und sein aufreibender Suchprozeß sind die Suche nach den Zeichen, nach der Sprache dieser Stadt. Seine Bilder sind immer narrativ, doch hier ist der Sprachfindungsprozeß ein schwieriger, denn Berlins Sprache ist keine einheitliche. Aus einem komplexen Zeichensystem von Pfeilen, Formen, Buchstaben, Zahlen und Strukturen entwickelt sich in den Werken des österreichischen Künstlers zwischen Moderne und Postmoderne, Werbung und Graffiti eine neue Sprachlichkeit. Es gibt keine illusionistischen Räume, keine figürlichen Darstellungen und auch keine mystischen Symbole, der Bilderkosmos Zechners dreht sich um bildliche und sprachliche Zeichen, die sich auf einer Oberfläche vereinen oder auf verschiedenen Ebenen aufeinanderprallen und eine Bildsprache entstehen lassen.

Zechner bedient sich verschiedener Zeichenvokabulare, im Bild findet eine Kommunikation der Kombination statt. Die Zeichen kommunizieren miteinander und mit dem Betrachter. Erst hier findet die Sprache einen Ausdruck und ermöglicht ein Gespräch. Gadamer hat es beschrieben, in dem Augenblick, in dem wir den Bildern betrachtend begegnen, ereignet sich das verstehende Gespräch. Um ein Bild zu verstehen, müssen wir die Herausforderung des Künstlers zum Gespräch annehmen. Wir sollten die Begegnung mit den Bildern suchen, denn das Gespräch findet im Werk statt. Die Arbeiten von Johanes Zechner sprechen die Sprache ihres Ortes, er nimmt eine Übersetzung vor und läßt Berlin in seinen Bildern sprechen. Der Berlinbabylonkoffer erzählt uns im begegnenden Gespräch von dieser Stadt in dieser Zeit.

 

Berlin, Juni 2003

 

 

Aus: Aljoscha Begrich, „Der Berlinbabylon Koffer von Johannes Zechner.“, in Johanes Zechner, Bilder im Gepäck, Folio Verlag, Wien - Bozen 2005