Die zentralen Ränder. Über die Bilder von Johanes Zechner

 

Sehr geehrte Damen und Herrn und vielleicht Kinder, Gäste der Eröffnung der Ausstellung von Johanes Zechner in Klagenfurt,

 

ist es wirklich Sprache? Ist das Sprache? Die Bilder von Johanes Zechner versuchten eine Sprache aufzuschreiben, so sagte es mein Vorgängerredner, der Redner bei der Eröffnung der Ausstellung im Museum Sammlung Essl im September dieses Jahres, welche das hundertteilige oder hundertseitige Konvolut oder Mosaik ‚Berlin Koffer’ zeigte. Welche Sprache? In dem ‚Berlin Koffer’ die Sprache der Stadt Berlin und darüber hinaus Deutschlands oder anders gesagt vielleicht das Alphabet der Stadt. Oft schon habe ich gehört oder gelesen, dass Bilder, auch die Bilder von Johanes Zechner, eine Sprache seien oder eine Sprache aufschrieben. Ich habe schon von der Sprache der Architektur, ihrem Vokabular, und von der Sprache der Musik gehört. Ist diese Beschreibung hilfreich bei der Betrachtung der Bilder oder verrätselt sie allzu sehr den Begriff Sprache? Tatsächlich ist in vielen Bildern, die Johanes Zechner gemalt hat – und in allen, die in dieser Ausstellung gezeigt werden –, viel Sprache zu sehen, in der Form von einzelnen Wörtern oder Zeilen oder in einer Länge, die Text oder Prosa genannt werden kann. Trotzdem darf man zögern, bei diesen vielen sprachlichen oder schriftlichen Zeugnissen von Sprache zu sprechen.

 

Werden in den Bildern diese Wörter und Sätze illustriert; umgekehrt: Benennen die Wörter und Sätze irgendetwas in den Bildern? In einem rot grundierten Bild steht unter anderem geschrieben: „Wir schleuderten über die Autobahnen. Wir dachten mit Freude an die nächste Zigarette. Wir spazierten durch die größer werdenden Supermärkte.“ In dem Bild finde ich kein anderes Wir als dieses Wort ‚Wir’. Ich sehe nicht Schleuderndes und keine Autobahnen. Keine Zigarette und keine Supermärkte. Die Sätze verdeutlichen keines der Themen des Bildes. Die eingeschriebenen Sätze stehen auch in keinem Kontrast oder Gegensatz zu irgendetwas in dem Bild Dargestellten.

 

Was sagen oder erzählen diese und andere Sätze? Soll der Betrachter sie lesen als literarische Sätze, als Zitate, als Hinweise auf den im jeweiligen Buch zu findenden Zusammenhang? Würden die Betrachter des Bildes Aufklärung finden, wenn sie die Bücher lesen würden, die Johanes Zechner gelesen hat? ‚Die Sprache’ nennt der Maler ein 1993 entstandenes Bild und scheint damit meine Frage, ob es sich wohl um Sprache handle, zu beantworten. In de plugins/editors/tinymce/jscripts/tiny_mce/themes/advanced/langs/de.js" type="text/javascript"> m Bild ‚Die Sprache’ findet sich ein Satz, der das unsichere Verhältnis von Bild und Wörtern auszusprechen scheint: „Die Sprache war der Augenblick der Unvereinbarkeit.“ Solches sagt dieser Satz, solches ist seine sprachliche Leistung. Dieser Satz sagt und spricht aber nicht nur, sondern er liegt oder steht da. Er liegt auf dem Bild, steht auf dem Bild, steht und liegt eigentlich am Rand des Bildes. Er spricht also nicht nur, sondern, wenn man das sagen kann, er bildet. Er bildet den Rand. Den Rand wovon? Den Rand des Bildes, welches umrandet ist von Sätzen, welche lauten: „Die Sprache war der Augenblick der Unvereinbarkeit. Die Ziegelwand hatte eine Oberfläche. Wir wollten an die Oberfläche hinaus. Wir kamen a“.

 

Mancher Betrachter des Bildes und Leser der Sätze wird bei dem Buchstaben ‚a’ am Ende oder Nicht-Ende dieser Sätze weiter lesen und den Buchstaben ‚a’ um den Buchstaben ‚n’ ergänzen und das Wort ‚an’ bilden. Und wird vielleicht immer noch weiter lesen und weiter bilden und es wird der Satz entstehen: Wir kamen an die Oberfläche. So dass also das Folgende in Johanes Zechners Bild stehen könnte: „Die Sprache war der Augenblick der Johanes Zechners Bild stehen könnte: „Die Sprache war der Augenblick der Unvereinbarkeit. Die Ziegelwand hatte eine Oberfläche. Wir wollten an die Oberfläche hinaus. Wir kamen an die Oberfläche hinaus“. (Tatsächlich steht in dem betreffenden Buch ein anderer Satz, der Buchstabe ‚a’ führt in eine andere Richtung. Im Buch steht: „Wir kamen aus einer Kultur des Tiefsinns“.)

 

Man könnte also denken: Das Bild will an die Oberfläche kommen. Genauer gesagt: Es will eine Oberfläche sein. Es ist Oberfläche. Die Oberfläche ist der obere Rand. Das Bild ist der obere Rand von etwas. Genauer gesagt: Das Bild kommt an den Rand. Es kommt zum Rand. Es kommt zu Rande. Es versteht sich vielleicht am Rand.

 

Die vielen sprachlichen Elemente in Johanes Zechners Bildern sagen auf vielerlei Weise, dass das Bild ein Rand ist, die Leinwand nicht allein vier Seitenränder hat, sondern einen oberen, oberflächlichen Rand hat. Genauer Seitenränder hat, sondern einen oberen, oberflächlichen Rand hat. Genauer gesagt: Das Bild hat nicht allein Ränder, sondern ist ein Rand.

 

Man betrachte das Werk von Johanes Zechner: mehr Ränder als Bilder. Seine allerneuesten Bilder sind vielteilige Tafelbilder, bei denen die Betrachter sich fragen: Warum so viele Tafeln, die der Maler schließlich aneinanderfügt zu einem Ganzen? Es geht dem Maler offenbar um die Ränder, mehr um die Ränder als um die Bilder. Wobei man kaum zwischen Rand und Bild unterscheiden darf, denn das Bild, seine Oberfläche, ist ja der Rand, zu dem wir kommen.

 

1993 ist auch das Bild ‚Nadelspitze’ entstanden und an die Oberfläche gekommen. Im Titel des Bildes ergänzt der Maler ein Wort, welches im Bild nicht vollständig ausgeschrieben ist, das im Bild ganz am Rand und als Rand steht. Der Text im Bild lautet: „Ich schloß am Sonntag Nachmittag auf dem Dach die Augen. Die Stadt zog sich zusammen zum Umfang einer Na“. Nadelspitze ergänzt also Johanes Zechner. Aber man weiß jetzt etwas über den Ort dieser Nadelspitze: Sie steht oder erscheint am Bildrand; sie steht als Rand; und sie taucht auf und kommt hervor ‚bei geschlossenen Augen’. Ersetzen wir die Nadelspitze durch den Bleistift oder die Feder, so schreibt der Maler bei geschlossenen Augen. Im Unterschied zum Schriftsteller, der auf Papier schreibt, das vier Ränder hat, scheint der Maler auf eine Wand, eine Art von Ziegelwand wie die im Bildtext genannte, eine Art Leinwand zu malen, die nicht nur Ränder hat, sondern ein Rand ist. Der Schriftsteller schreibt auf einem Blatt, das Ränder hat; der Maler malt auf etwas, das Rand ist; genauer gesagt: Der Maler bildet den Rand.

 

Der Rand kann flattern. Linker und rechter Rand, vor allem der rechte Rand, flattern, springen vor und zurück in dem Bild mit dem Titel ‚Wehrgasse’, über welches sich manches sagen lässt, welches ich ungern deuten möchte. Die Wehrgasse ist eine Gasse in Wien, im 5. Gemeindebezirk. Das Wort Wehr’ ist eines der ältesten Worte der Sprache, als Grundbedeutung ist anzusetzen ‚den Zugang zu einem Gegenstand sperren’. Kann man sagen, dass die Bilder von Johanes Zechner den Zugang zum Gegenstand sperren? Dass sie aber ihre Ziegelwand, ihre Oberfläche, ihren Rand gewähren? Die Bilder also gewähren keinen Zugang zu etwas, geben nichts Identifizierbares preis. In der Wiener Wehrgasse befand sich ab dem Jahr 1938 das Passamt, welches zuständig war für die Bearbeitung von Ausreiseansuchen. Wer 1938 ansuchte um die Ausreise aus Wien, der hatte nicht vor auszureisen, sondern zu fliehen, und war zur Auswanderung gezwungen. In den ersten acht Monaten nach der Schaffung von Adolf Eichmanns Zentrale für jüdische Auswanderung verließen 45 000 Juden Österreich; zehn Monate später hatten annähernd 150 000 Österreich verlassen, ‚legal’, nach Einreichung eines Ausreiseansuchens. Ansuchende mussten im Passamt sich identifizieren lassen, um ein Reisedokument ausgestellt zu bekommen, ein Fluchtdokument. Die Wehrgasse war ein Ort der Identifizierung, also ein Ort der Bedrohung, der Lebensgefahr.

 

In diesem Bild flattert der Rand vor sich hin, springt vor und zurück. Der Text zeigt sich nicht ganz, ein Rand läuft durch ihn hindurch, an ihm entlang. Der Text wird anders lesbar, verliert seine Identität, ist kein Dokument mehr, sondern ... sondern lässt sich so lesen:

 

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Am Ende der letzten Zeile – „stand in der“ – steht ein einzelner senkrechter Strich: der Beginn eines neuen Buchstabens, der verdeckt, verwehrt bleibt. Von diesem Buchstaben ist nur dieser Strich sichtbar – dieser Strich ist ein Rand. Der Text und das Bild gehen auf keine Erkenntnis und Offenbarung zu, sondern auf einen Rand, auf die Oberfläche. Die Oberfläche wird sichtbar.

 

Sichtbar wird an dieser Stelle auch, dass das Geschriebene in Johanes Zechners Bildern nicht allein spricht oder erzählt von Oberfläche und Rand, sondern selbst Rand ist – die einzelnen Buchstaben sind aus Rändern gebildet. Buchstaben bestehen ja nur aus Rand, aus Randstrichen. Sie erhöhen det. Buchstaben bestehen ja nur aus Rand, aus Randstrichen. Sie erhöhen die Oberflächlichkeit der Bilder, die Oberflächenaktivität. Sie sind Ränder, haben keine Mitte und keine Fläche. In den Buchstaben dieser Bilder wird erkennbar, dass Johanes Zechners Bilder auch gar keine Flächen haben, nicht flächig sind, sondern große Marginalien sind, ausgedehnte Ränder, doch keine Flächen. Nur in diesem Sinn sind die Bilder sprachlich: dass sie aus reinen ne Flächen. Nur in diesem Sinn sind die Bilder sprachlich: dass sie aus reinen Rändern bestehen, wie Buchstaben. Was auf den allergrößten Bildern flächig aussehen mag, ist reiner Rand, keine Schauseite, nichts Präsentiertes und Gezeigtes, sondern Rand, eigentlich schmal und fein wie ein Strich. Liest man zeigtes, sondern Rand, eigentlich schmal und fein wie ein Strich. Liest man den Text im Bild ‚Wehrgasse’ auf literarische Weise, so steht dort Folgendes geschrieben: „Ich sah die Photographie von der Polizeistation Wehrgasse. Der Text der Seite beschrieb die Polizeistation Wehrgasse als das Passamt. Das Passamt Wehrgasse war nach 1938 das zuständige für die jüdischen AusreiPassamt Wehrgasse war nach 1938 das zuständige für die jüdischen Ausreiseansuchen. Ich stand vor der Bibliothek. Ich stand in der ...“. Das Ende dieses Satzes ist auf dem Bild ein Strich, ein Rand. Das Ich der Sätze im Bild steht nicht vor etwas, nicht in der Wiener Wehrgasse, sondern an einem Rand und auf einer Oberfläche.

 

‚Wir liebten einander, wir waren das Hoffen’ ist der Titel eines Triptychons, das 1994 entstanden ist. Der Titelsatz „Wir liebten einander“ steht in dieser Form nicht in oder auf dem Bild. Der randlose literarische Satz „Wir liebten einander“ wird in dem Bild marginal und oberflächlich. Er beginnt liebten einander“ wird in dem Bild marginal und oberflächlich. Er beginnt rechts unten in der mittleren Tafel des Triptychons. Er steht in der letzten Zeile, welche nicht mehr die volle Zeilenhöhe besitzt und den unteren Rand der Buchstaben abschneidet. In der äußersten rechten Ecke, am Rand des Randes, steht geschrieben „wir lie“. Oder da steht weniger und es ist unleserlicher. Die wenigen Striche am Schluss der Zeile, im Bildwinkel, lassen sich nicht mit Gewissheit erkennen als „wir lie“. Sie sind noch weniger. Sie sind bloß Rand. Rand von ... Rand von was? Der leserliche Text in dem Bild spricht stürmisch, euphorisch, auch lautstark. „Wir verbrauchten die Zeit. Wir spürten die Nacht. Wir priesen die Ohnmacht als Kirchturm mit der Glocke. Wir schleuderten über die Autobahnen. Wir dachten mit Freude an die nächste Zigarette. Wir spazierten durch die größer werdenden Supermärkte. Wir kannten den Weg. Wir brauchten niemanden überzeugen. Wir lachten über die Theologie.“ In diese Literatur schiebt das Bild drei Flächen hinein und unterbricht sie und gibt ihr dabei Ränder. Mitten im Bild stehen Ränder.

 

Die rechte Tafel des Triptychons scheint noch weniger anzuzeigen als das geringe „wir lie“. In der unteren Hälfte des Bildes sind zwei Zeichen zu sehen, die man als Buchstabenreste ansprechen könnte, zwei Randstücke von etwas, das im einen Fall der Großbuchstabe ‚E’ sein könnte und im anderen ein unbekannter Buchstabe. Beide Zeichen scheinen Sichtbarkeit wegzunehmen. Das Bild zeigt nicht und offenbart nicht, sondern ist oberflächenaktiv. Wir wissen nicht, was die goldene runde Form repräsentiert. Sie zeigt sich nicht. Sie ist nicht nackt. Aber sie ist aktiviert und wie Haut. Sie ist so oberflächig und so randhaft wie rund, dass sogar ihr Mittelpunkt zum Rand wird. Ihr Zentrum ist Rand.

 

Seit jenen Bildern hat Johanes Zechner zur Randerzeugung andere Mittel entdeckt. Er hat Schachteln – Streichholzschachteln, Kellog’s boxes, Waschmittelkartons – geöffnet, am Klebefalz gelöst und entfaltet und als Fläche bemalt. Aber es sind nicht Flächen – es sind Oberflächen von etwas, das nach der Entfaltung nicht zu sehen ist. Diese geöffneten und entfalteten Schachteln und Kartons sind überraschend randreich, man könnte auch sagen: randvoll. Der leere Karton, der leere entfaltete Karton ist randvoll. Seitenteile, Oberteile, Deckel, Laschen, Klebeflächen eines Kartons ergeben entfaltet eine unregelmäßige, ränderreiche Gestalt. Diese, zur Malfläche gemacht, ist schon vor dem Malvorgang randvoll. Johanes Zechners Bilder können leer und randvoll zugleich sein.

 

In jüngster Zeit entstehen Werke, die aus einzelnen, verschieden großen Bildtafeln zusammengesetzt sind. Es sind Bilder aus vielen Bildern, aus vielen Tafeln, die beinahe wie ein Mosaik zusammengeschoben werden. So gehen Bildränder mitten durch das Bild. Es handelt sich dabei nicht um Außenränder, sondern um Innenränder oder zentrale Ränder.

 

Die Wörter und Sätze in den Bildern von Johanes Zechner illustrieren nicht, sie erzählen nicht und es sind keine Zitate, haben nämlich nicht die Autorität von Zitaten. Wie hat also der Maler die Sprache für seine Bilder gefunden? Wie hat er gefunden und entdeckt, dass Wörter und Sätze die Ränder seiner Bilder vervielfachen können? Wie hat der Maler das Nicht-Illustrierende, das Nicht-Erzählende der Sprache gefunden? Wie hat er ihre Marginalität entdeckt? Ich glaube, er hat die Oberflächlichkeit der Sprache gehört. Sie gehört, indem sie mit dem Bleistift auf Papier geschrieben wird. Er hat gehört, dass die Sprache auf dem Papier, nämlich auf der Oberfläche des Papiers, rauscht und reibt und zischt. Dieses Rauschen hat ihn aufmerksam gemacht, dass es ein Rauschen und Zischen auf einer Oberfläche ist. Er hat die Oberfläche gehört. Ich vermute, dass Johanes Zechner die Oberflächen und die Ränder gehört hat, bevor er sie gesehen hat. Daher haben seine Bilder eine verhaltene, vorenthaltene visuelle Qualität. Ihr Anfang liegt vermutlich im Hören und immer noch ist dieser Anfang mächtig.

 

Und ich vermute, dass der Maler früh auch gehört hat, dass die gesprochene Sprache nicht total ist, sondern dass die in Klagenfurt und Kärnten gesprochene deutsche Sprache tatsächlich einen Rand hat oder überhaupt der Rand ist einer anderen Sprache, nämlich der im Süden verbreiteten slowenischen Sprache. Er hat gehört, dass das Deutsche der Rand ist des Slowenischen Sprache. Er hat gehört, dass das Deutsche der Rand ist des Slowenischen, dass die slowenische Sprache im südlichen Kärnten der Rand der deutschen Sprache ist. Und indem er gehört hat, dass Sprachen Ränder haben können, hat er vielleicht gehört, dass Ränder keine Grenzen darstellen, sondern dass sie grenzenlos sind. Ich höre also tatsächlich die Anwesenheit des Slowenischen in den Bildern von Johanes Zechner. Und ich sehe die Grenzenlosigkeit seiner Bilder.

 

Rede, gehalten am 7. Dezember 2006 im Musil-Institut zur Eröffnung der

Ausstellung von Johanes Zechner in der Reihe ‚Atem und Raum‘