Echos aus dem Hochzeitszimmer.

Zu den Zeichnungen „DIESE WEISSE EKSTASE“ von JOHANES ZECHNER

nach lyrischen Texten von INGER CHRISTENSEN

 

 

I

Es sind biografische Brüche, die das Leben verdichten.

Oder durchaus unbegründete Relationen – nicht im Sinne einer ästhetischen Evidenz, wie es gute Kunst beansprucht, sondern im Sinne des Zufalls, wer wann und wie ein Buch in die Hand bekommt, ein Bild sieht und gerade erst dann von dem erfasst wird, was man vor langer Zeit bereits ENARGEIA nannte. Anschauliche Bilder sprechen. Und wirken als Worte. Von einer Spiegelung im Bild aber ist hier die Rede, von einem Echo im Wort, das notwendig zeitverschoben ist.

 

II

INGER CHRISTENSEN – DAS GEMALTE ZIMMER1 bekamen Barbara und ich von meinem Lehrer und dessen belesener Frau vor zehn Jahren zur Hochzeit geschenkt. Symbolisch, vergeistigt, passend zur Vermählung: denn die „Camera degli Sposi“ (1474) von Andrea Mantegna (1431-1506) ist da beschrieben, die ich bislang freilich nur in der kunsthistorischen Etikettierung der ersten Scheinkuppel kannte (– mit den herabblickenden Engeln also, von denen einige fast herunterfallen und sich nicht ganz glaubwürdig am Gesims halten; einer zeigt sogar in stärkster Untersicht seinen Po und hält sich am Gitter fest.) Aber in dem genannten Buch sind noch zwei weitere Gemälde der CAMERA PICTA in Mantuas Palazzo Duccale beschrieben. Denn sie alle gehören zur Camera degli Sposi. Christensen macht in diesem Buch auf, woran Hochzeitsmenschen heute im Allgemeinen weniger denken: Dass Hochzeit neue Konstellationen festschreibt, die etwas komplexer sind als Freiheit, Emotion und Sehnsucht zweier Liebender. Sie ist mitunter der Eingang zu einem Labyrinth, und ein Labyrinth ist dieses Buch mit seinen dargestellten Personen. Mantegna versammelte in seinem monumentalen Werk die Mitglieder der fürstlichen Familie und zahlreiche Zeitgenossen, und lieferte mit bestimmten Figurenkonstellationen, mit Allegorien und Symbolen Generationen von Kunsthistorikern Material für die unterschiedlichsten Deutungen und Spekulationen. Es wird eine mögliche Geschichte der Beziehungen zwischen den Dargestellten erzählt. Es ist eine Geschichte von Liebe, Hass und Intrige, teilweise basierend auf historischen Fakten, teilweise frei erfunden, wobei die Grenze zwischen Realem und Fiktivem oft schwer zu orten ist. Beim ersten Lesen habe ich von der Geschichte, die mit der literarischen Strategie des Labyrinths arbeitet, nichts verstanden, beim mehrmaligen mehr. Die primäre Erkenntnis im Rückblick: Hochzeiten sind nicht nur Akte der Liebe, denn Akte der Weltgeschichte, und sei ihr Kosmos nur auf klein gewordene Familienakte geschrumpft: Labyrinthe an sich geben noch keine Auskünfte über deren Größe. Nun liegt das Buch wieder vor mir. Aber nicht in der Suhrkamp-Ausgabe, sondern in der bibliophilen Variante des Kleinheinrich-Verlages, bei der man die Seiten nach alter Tradition erst aufschneiden muss. In dieser Ausgabe hat Per Kirkeby die Radierungen beigestellt.

 

III

DIESE WEISSE EKSTASE ist nicht minder bibliophil. Dieses Buches Bildrelation geht freilich noch ein großes Stück weiter als DAS GEMALTE ZIMMER.

Diese weiße Ekstase – das bedeutet Alarm, das bedeutet auf dem Sprung wie die feuchten Lippen unterwegs in den Kuss.

Johanes Zechner ist nicht prominenter „Illustrator“ von Texten, sondern präsentiert sich mit diesem 99-teiligen Zyklus als Künstler mit einem existenziell motivierten Gedankenstrich, besser: Doppelpunkt: Es ist ein Kind, das den Ausgangs-punkt für einen Zyklus bildet, es ist SEIN Kind, dessen Wachsen er mit den Mitteln der Kunst zu umkreisen sucht. Det/das ist begleitet vom Bewusstsein des Verfließens der Zeit, der Faszination aus Ohnmacht, was sich innerhalb dessen, was uns als Zeit gewahr wird, überhaupt ereignen kann.

Unsere Funktion ist unbegreiflich zu sein.

Innerhalb dieses Gedankenstriches liegt ein Buch von Inger Christensen, das erst rund 35 Jahre nach seinem Erscheinen in Dänemark auf deutsch vorliegt: det/das. Zeit, so benannt, ist die Verschiebung einer ganzen Erwerbsarbeitslebensphase – und mit ihr verquickt alle Höhen und Tiefen beim Versuch, eine Identität aufzubauen oder an ihr zu scheitern. Mittlerweile, 40 Jahre nach Erscheinen ihres frühen Meisterwerks, ist Inger Christensen längste die grande dame der dänischen Literatur und wird zu den größten Dichterinnen Europas gezählt. Johanes Zechner, der um fast eine Generation Jüngere, den die deutsche Ausgabe von det in den letzten Jahren förmlich in einen Schaffenssog gezogen hat, lässt sich von einer großen Frau die Geheimnisse der Liebe, des Schmerzes und des Lebens erklären: Wir sind dabei, seine grafischen Übersetzungen in 99 Zeichnungen zu lesen, als ob es eine Synthese aus zwei Zeiten wäre. Das Erscheinen dieses Buches wird der Anlass sein, die beiden im Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz zusammenzuführen. Nun liegt die Karte von Inger Christensen vor mir, auf der sie mitteilt, handgeschrieben selbstverständlich, dass sie sich freue, zur Lesung nach Graz zu kommen.

 

IV

Den zweiten Frühling haben die deutschsprachigen Leserinnen und Leser bei der 35-jährigen Verschiebung von det/das, dem frühen Meisterwerk von Inger Christensen, erlebt: Was wir vor uns haben, sei ein „Weltpoem“, eine Art „poetischer Schöpfungsbericht“, der noch „immer dunkel und geheimnisvoldichterisch wie am ersten Tag“3 wirke (Beatrice von Matt). Und zugleich: „Der rebellische Geist der Studentenrevolte weht durch die Buchseiten. Ein unglückliches Bewusstsein, vereinsamt und versteinert im Gefängnis Großstadt, beklagt den Zustand der Welt und bekennt freimütig seine Ängste“ (Mechthild Rausch). 40 Jahre später trägt die Reminiszenz an jene Zeit mitunter kitschige Züge.

Sitze ganz still in einem Stuhl und bekomme einen Orgasmus.

Der Satz stand auf einem Bild Johanes Zechners, das er mir unter brütender Hitze im unisolierten Dachboden eines alten Hauses in Kärnten vorblätterte: Hochsommer war, gerade eine Hitzewelle zudem, als der Künstler mir erstmals seine Bildwelt erklärt hat. In diesem Klima der Überhitzung erschien mir dieser Satz vollkommen abstrus. Johanes Zechner ist mir durch ein Straßenlabyrinth vorausgefahren, vorbei an einer Autobahnkirche, die ich mit ihm verband – eine Glasfensterarbeit in mehreren Sprachen: „DER WIND DER EWIGKEIT WIRD STÄRKER“, „GLANZ LUST STILLE“ – bis wir schließlich in seinem Sommersitz angekommen waren: eines von ehemaligen Pfarrhäusern, das vor Jahren der damalige Bischof von Gurk Künstlern vermittelt hat. In ihm: dicke Mauern, ein Neugeborenes, seine Mutter. In der Gar tenlaube: Marillenknödel und Wasser. MIEGER, erklärte Johanes Zechner mir den Dorfnamen, hat mit mager zu tun: keine sehr fruchtbare Gegend in diesem windischen Teil Kärntens ( – selbst wenn es, exakt gesprochen, Obermieger ist, wo wir uns befinden).

 

V

Eine überlebensgroße Keramikskulptur, rot-weiß-rot gestreift, ist im Garten des ehemaligen Pfarrhauses von Mieger aufgestellt. Sie erinnert an die Urform einer Fruchtbarkeitsgöttin – von mager keine Spur. (Eine Hommage an die Urgroßmutter.) Die Gartenkeramik ist freilich nur eine von vielen aus einer familienähnlichen Serie: Sie gehört zur Werkfamilie der RETORTEN. Der Titel der Keramikserie ist den Reproduktionstechniken der Menschheit entnommen, die ebenso zu den Errungenschaften der letzten 40 Jahre gehören, wenngleich man dort weniger an unmittelbare Süßigkeiten, Torten also, denkt als hier.

Die sonnenklaren Details zu einem Spermagott zusammenfügen.

Johanes Zechners Retorten gehören aber nicht in die Kühnheit der Schöpferbeerbung, die sich in der klinischen Reinheit des Labors abspielt und damit der Ekstase der Vereinigung entbehrt, sondern in den Bereich der künstlerischen Utopie, die im hochgradigen Keramikofen mit gleißender Sinnlichkeit die Gegensätze von Frau und Mann in Urformen verschmelzen lässt. Es gibt kleine, große, übergroße rot-weiß-rote Retorten. Sie glänzen in ihrer Glasur stärker noch als die beste Zuckerglasur der Großmutter.

Die Stoffe der ganzen Welt im Körper – ein Rausch der unsere Liebe produziert.

Ob einmal mehr phallisch, ein andermal mehr archetypisch weiblich bergend, die die Gegensätze der Geschlechter vereinigenden Gebilde bleiben auch darin in einem System angeordnet – familienähnlich. Die Camera degli Sposi wird hier aber nicht zum unheimlichen Retortenzimmer mit den offenen und geheimen Feind- oder Liebschaften, Geschäfts- und Privatinteressen, sondern zu einer in sich ruhenden Figurengruppe, deren Relationen untereinander sich jeweils – je nach Aufstellungsort – ändern können, sollen und müssen, aber die durch eine grundlegende Stammeszugehörigkeit nicht bloß definiert (d.h. begrenzt), sondern verbunden sind. Ihre nie gleiche, sich aber immer ähnelnde und so immer wiederholende Form erzählt von einem utopischen Zusammensein in freier Anordnung und offener Bezugsmöglichkeit. Die Begrenzung findet ihren Rahmen in der Wiederholung der Form.

Eine Fruchtbarkeit in der preisgegebenen Wüste, ein Blühen in Basis Halleluja.

 

VI

Es gibt, wie im Oeuvre fast eines jeden Künstlers, gewisse formale Erkennungs-zeichen, die ein optisches Erkenntniskriterium bilden: bei Johanes Zechner sind es feinsäuberlich gemalte Buchstaben, sodann vasenartige Gebilde im Bild und in der Skulptur – Retorten, aber vor allem Bilder, die erst richtig zusammengebaut werden müssen: Puzzlebilder. Die einzelnen Teile gehen freilich nicht ineinander über wie bei einem richtigen Puzzle, sondern beziehen sich als autonome Bilder, meist in einer klaren Zeichenhaftigkeit bemalt, aufeinander: Es wird eine Erzählung suggeriert, deren narrative Strukturen freilich erst freigelegt werden müssen, und deren Polyfokalität an alte Erzählstrukturen aus der Zeit der Freskenmalerei auf uralten Mauern erinnern.

Es gibt Basiliken mit Steinflügeln. Gekrönte Steine, die sich bewegen

Aber was lässt an Erzählung denken, wo die Bezüge der Bilder jeden Faden überspannen müssen? Was an alte Steinlitaneien, wo doch die Zeichen, die auf den Puzzlebildern gemalt sind, keiner wie immer vertrauten Sprachgewohnheit entsprechen, sondern aus dem Ort entstanden sind, in dem sie ihre Bedeutung erst entfachen? Sodass der Ort erst langsam erfahren werden muss, langsam ergangen, langsam erschaut – und schließlich wieder verschlossen werden muss, auch wenn man glaubt, dass seine erstandenen Zeichen, ein wenig wenigstens, weiter getragen werden können? Eine Erzählung verbirgt sich im Koffer. Eine Erzählung entsteht, wenn man die Bilder zusammenfügt.

Das Ganze kann darauf und darum entfernt und an eine ganz andere Stelle plaziert werden.

Erzählungen entstehen nur solange, wie man mit dem Spiel des Zusammenbauens beschäftigt ist, was mitunter Mühe bereitet; sie können freilich länger bestehen bleiben als die Bilder selbst. Das alles meint nicht sampeln. (Das scheidet doch die Generationen.) Die Zeichnungen DIESER WEISSEN EKSTASE aber fallen aus den Erkenntnismodi, die uns bislang von Johanes Zechners Bildern vertraut waren, heraus. Die Formen: eruptiv zumeist, dann tänzelnd, kreisend, zart und wild. Die Geste in der Pinselführung scheint vom Banne der puren Emotion getragen, und es ist zumeist nicht klar, was im Bildaufbau zuerst da war: Text oder Geste. Der formale Bruch mit seinem übrigen Werk erinnert an andere Eruptionen im Zeigen seiner Bilder, etwa wenn er, wie in Passau, ganze Stapel von Tellern zerschmettert, während Hans-Peter Wipplinger die Rede zur Ausstellung hält und im Lärm die Besucher gewahr werden: diesmal gibt es wohl ganz gewiss kein Buffet, nur die Bilder der Ausstellung. Ein Akt der Konzentration also im ambivalenten Kunst-Betrieb, der eigentlich ein Zeigen von Bildern sein soll.

Greife zu neuen Methoden um eine Leidenschaft durchzuspielen.

 

VII

Die Zeichnungen hier, so Johanes Zechner, hätten als eine Art Intermezzo begonnen: Gedanken, Gesten, Händen freien Lauf zu lassen, den Regen am Dach zu hören und dann Striche zu machen zum Beispiel, wie hier: Ja, es habe tatsächlich geregnet den ganzen Tag. Solche akustische Untermalung war nachvollziehbar, wenn man die nackte Deckung mit grauen Ziegeln sah, ohne Kaltdach und somit ohne Isolierung, man hätte das Klopfen der Tropfen auch nun gehört, man hätte es sich gewünscht in der aktuellen Hitze, als ich die Bilder sah, man hätte den Regen gewünscht, der diesen Dachboden ein wenig gekühlt hätte. (Aber es regnete nicht).

Mehrere Personen haben von einer Gesellschaft geträumt, dagesessen und geträumt im strömenden Regen, von einer Sonne geträumt, die aus einem Abgrund aufgeht, den Einzelnen wärmt, ihm ein Zeichen gibt.

Blumenkinder also. Zwischen den Zeilen liegt mittlerweile eine ganze Biografie, liegt Weltgeschichte, liegt der Kalte Krieg, liegt Vietnam, das Wettrüsten der 70-er Jahre, der NATO-Doppelbeschluss, das beginnende Waldsterben der frühen 80-er. Und jetzt? Es wird nicht kälter, es wird immer wärmer, stetig.

Die Worte bleiben wo sie sind während die Welt verschwindet.

Die Winde nehmen zu, ABER NICHT DER WIND DER EWIGKEIT. Bäume, seit 20 Jahren noch immer nicht gestorben – Bäume werden älter – knicken durch den Sturm. Geschichte nimmt ihren Gang, unabhängig von Vergangenheit, allein die Wiederkehr des Frühlings und des Winters ist nicht mehr so gesichert und somit auch der Trost, der sich aus der Natur nährt. Aber die Jungen tun sich mit dem Erinnern von Oma und Opa als der träumenden Blumenkinder schwer. Wie heute träumen?

Ich kann nicht sehen, dass du nicht ich bist.

 

VIII

Der Kleine schläft. Nicht nur, dass dieser Zyklus, der schließlich auf 99 Zeichnungen begrenzt wurde, mit dem Beginn der Schwangerschaft seiner Frau seinen Anfang nahm und sich so der ausgezeichnete Anfang der Verschmelzung, der erst zaghaften und dann milliardenfachen Teilung der Zellen in die Zeitstruktur des Lebens einzufügen beginnt: Der Vater des Kleinen behauptet, dass sich das Vorlesen der Texte von Inger Christensen selbst beim Neugeborenen und dann auch heranwachsenden Säugling beruhigend ausgewirkt habe. Was dem Künstler-Vater durch die durch Lyrik bedingte und mit ihr geförderte Einschlafmethode das Weiterarbeiten an diesem Zyklus ermöglicht habe. (Ob sich das ändern wird?) VERBUM EFFICAX: Wann eigentlich folgt dem Wort auch die Wirkung, wann wird das Wort Gestalt? Die Performativität der Rede ist ohne die Wechselwirkung von Wort und Fleisch nicht zu denken. Das Fleisch wird Wort. Das Wort wird Fleisch.

Inger Christensen steht fest auf der Gleichzeitigkeit dieser beiden Sätze, ihr dichterisches Werk entstand unter diesen paradoxen Bedingungen. Es ist ein Ineinanderfließen von Wort und Wirklichkeit, von Innen und Außen, von Rede und Handlung als ein Geheimniszustand.

Dann treten sie heraus aus der Sprache. Als wären sie aus Worten gemacht. Dann werden sie hineingewirbelt in die Sprache als wären sie aus Erde gemacht. Dann schwanken sie hin und her.

Wie ist das Verhältnis von Teilung und Einheit, von Chaos und Ordnung, von Prozess und Gestalt, von Schlafen und Sprechen, von Selbstorganisation und Schöpfung? Es ist kein Nacheinander, auch nicht Gegensatz, sondern ein Zugleich. Vielleicht ist det/das zugleich der LOGOS, vielleicht ist Sprache der Schlüssel zur Schöpfung.

Worte könnten es sein, die der Welt Gnade brächten.

 

IX

det/das. 99 Namen.

Heilige Steinlitaneien, die in den Tiefen der Kulturschichten mahlen.

det/das ist unendlich.

 

X

Der Nomadologie der Intellektuellen am Ende des 20. Jahrhunderts ist der allseits erfahrbare Globalisierungsdruck gefolgt, der bis in die entlegensten Täler zu wirken scheint. Es gibt keine Zuflucht mehr: auch dort hat man immer erreichbar zu sein. Solch ökonomisiertes Nomadentum präsentiert sich als Vernetzung. Auf den ersten Blick ist das künstlerische Werk Johanes Zechners in den letzten 15 Jahren ein Paradebeispiel eines nomadologischen Lebensgefühls: Ausgedehnte Reisen, immer neue Aufbrüche, der Faszination der Vielortigkeit erlegen. London, Irland, Israel, Afrika, Texas, Berlin tragen nur noch das Epitheton „Koffer“. Die „Bilder im Gepäck“4 sind nicht virtuelle, sondern real gespeicherte, aber an den jeweiligen Orten hautnah entwickelte und aus ihnen entstandene Zeichen. Deren Alphabet, dem Erkennen folgen kann, ist aus der langen Bemühung der bereisten Orte und der Zeit geschrieben, und als solche ist es keineswegs in den Zeichen einer möglichen lingua franca verfasst, auch wenn deren äußere Gestalt von einer großen Einheitlichkeit zeugen.

Ich habe versucht von einer Welt zu erzählen, die es nicht gibt, damit es sie gebe, die Luft, die in der Luft stillsteht, außerhalb der Stadt, wohin ich nicht mehr komme.

Die 99 Zeichnungen DIESER WEISSEN EKSTASE, die in Hamburg ihren Anfang genommen haben, haben mit jenen Arbeiten nur eines gemeinsam: ihren Behälter. Der Koffer aber ist hier weniger der Bildträger aus der Nomadologie, der reale und durchaus auch praktische Begleiter als Behältnis eines künstlerischen Ertrags, sondern trägt vielmehr metaphorische Züge für die Dringlichkeit des Existenziellen, wie es etwa eine abgetretene Schwelle oder das Bett haben können, freilich ziemlich verschiedenartig in ihrer Art, Zeit zu erfassen. EINPACKEN ist, je nach biografischem Fortschritt, eine Tätigkeit für den Abschied, die Flucht, das Abdanken oder den Aufbruch. Babys groß zu ziehen und mit ihnen unterwegs zu sein, bedarf vieler Packerei, ob für die Spazierfahrt mit der Reservewindel oder der Reise mit all jenen Utensilien, die Babys heute nötig haben. Der Koffer dieser Zeichnungen ist kein Babykoffer, weder ein virtuelles noch ein analoges Bildarchiv, aber ein Behälter, der ein ganzes Bündel Tagebücher, einen ganzen Stapel Liebesbriefe birgt – das einzige, was man mitunter in solchen Koffern aufbewahrt.

Die einzige Welt ist die Einzige für uns. Die einzige Welt ist unbeschreibbar für uns. Sie schreibt sich selbst.

Das Überdauern der Zeit ist zwar an die analoge Welt gebunden – die Virtualisierung der Liebe, das Schrumpfen auf SMS-Länge lässt eine Welt zwar nicht untergehen, aber doch historisch werden. Das Beschreiben der Blätter in der Zeit ist in eben solchen Maße Geschriebenwerden. Eine Erkenntnis, die sich mitunter erst ergibt, wenn man den Koffer wieder öffnet, das Echo des Halls jenes Zimmers wieder zu hören glaubt, das die Camera degli Sposi frequentierte.

Es ist seltsam: Die Worte verbergen eine Agitation, ein Zutrauen zu genau der Stelle, wo sie straucheln, einen Sturz im Innern, eine stumme Mutation, eine versehrte Umwelt, wo das Leiden plötzlich jubelt.

Hymnisches Singen haben wir in der Zeitverschiebung, wie es die deutschsprachige Erscheinung von Inger Christensens det/das markiert, im Großen und Ganzen verlernt, oder wir üben es zumindest nicht mehr aus: Nicht nur Lyrik verhält sich heute anders als vor 40 Jahren. Der Entdeckungswert aber, den diese Verse in ihrer Zeitverschiebung ausgelöst haben, ist nicht bloß im Mehrwert zu finden, sondern in den Spalten, Tiefen und auch Höhen jener Räume zu suchen, die wir in der Zeit zu bemessen glauben: Darin sind sich die grafischen Übersetzungen in ein neues Alphabet, wie es Johanes Zechner mit DIESER WEISSEN EKSTASE vollzieht und die frechen Blicke oder auch die gefährdeten Klammerübungen der Putti aus den Höhen von Mantegnas Hochzeitszimmer – so weit entfernt sie auseinanderliegen mögen – ähnlich:

Der Glaube besteht in der dunkelsten Höhle. Der Glaube besteht im reinen Exzess.

 

IC Das Leben ist heilig.

 

 

1 Inger Christensen: Das gemalte Zimmer. Eine Erzählung aus Mantua. Per Kirkeby: Radierungen. Aus dem Dänischen von Hanns Grössel. (Dänische Literatur der Moderne, Bd. 4) Kleinheinrich Verlag: Münster 31993 [1989].

2 Alle kursiv gesetzten, in grauer Schrift gehaltenen Zitate stammen aus Inger Christensens det/das, wie Johanes Zechner sie in seinem 99-teiligen Zyklus auszugsweise verarbeitet hat.

Inger Christensen, det / das. Aus dem Dänischen von Hanns Grössel. Dänische Literatur der Moderne, Bd. 15, Kleinheinrich: Münster 2002.

3 Beatrice von Matt, Rezension in der NZZ, 17.09.2003.

4 Franziska Lesák (Hg.), Johanes Zechner – Bilder im Gepäck. Werkgruppe der Kofferarbeiten 1993-2003. Mit Textbeiträgen von: Astrit Schmidt-Burkhardt, Aljoscha Begrich, Johannes Gachnang, Sean Rainbird und Johanes Zechner. Folio Verlag: Wien-Bozen 2003.

 

 

Aus: Johannes Rauchenberger, „Echos aus dem Hochzeitszimmer.“, in Johanes Zechner, Diese weiße Ekstase, Folio Verlag, Wien - Bozen 2008