Johanes Zechner. Retortenfamilien

 

Der 1953 in Klagenfurt geborene Künstler Johanes Zechner studierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien und am Royal College of Art in London und war mit anderen Vertretern der Neuen Österreichischen Malerei bald in wichtigen internationalen Ausstellungen vertreten. Schon früh beschritt Zechner eigene künstlerische Wege und ließ sich dadurch nie in eine Gruppe oder Kunstbewegung einordnen. Wie kaum ein anderer bildender Künstler setzte er sich intensiv mit Literatur auseinander und verknüpfte seine malerische Arbeit mit Zeichen und Zeichensystemen.

 

Zechner wird oft als reisender Künstler apostrophiert, der auf den Spuren fremder Kulturen unterwegs ist. So führte ihn seine Neugierde auf die Eigenheiten und Kostbarkeiten anderer Kulturen und Gesellschaften oft und lange in die Ferne. In afrikanische Länder wie Ghana oder Ägypten, nach Indien und die Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch in zahlreiche europäische Länder und Städte wie Prag, Berlin oder Hamburg. Die Bezeichnung als Gegenwartsnomade trifft sicherlich zu, wenngleich er sein „Headquarter“ in Kärnten nie aufgegeben hat und Sommers dort nach wie vor künstlerisch tätig ist.

 

Zechner gönnt sich den Luxus Zeit, verweilt länger an einem Ort, um die Atmosphäre und deren Spezifikas zu erkunden, deren Kultur und Struktur zu erfahren, die Zeichensetzungen und damit die visuellen Sprachen zu analysieren und auf seine ihm eigene Art künstlerisch zu transformieren. Viele dieser Reiseeindrücke wurden in sogenannten „Kofferarbeiten“ (Afrika-Koffer, Texas-Koffer, London-Koffer, Prag-Koffer, Berlin-Koffer etc.) zusammengefasst. Behältnisse, in denen die vor Ort geschaffenen malerischen Spurensicherungen verwahrt und als tagebuchartige „Aufzeichnungen“ zu Ausstellungspräsentationen transportiert werden.

 

Ähnlich wie er kulturelle und soziologische Phänomene erforscht, so folgte er 1998 den Spuren des 1997 verstorbenen Künstlers Forest Bess. Bess und Zechner verbindet nicht nur eine Seelenverwandtschaft im Sinne des Einzelgänger-Dasein, sondern auch eine formalästhetische Beziehung. Der bereits erwähnte Texas-Koffer entstand im Zusammenhang mit dieser Forschungsreise und stellt eine Auseinandersetzung mit Leben und Werk dieses visionären Künstlertypus Bess dar. Seine Formensprache, die nicht unähnlich jener Zechners ist, war bestimmt von einfachen Bildern, geometrischen Formen, symbolhaften Zeichen wie Kreuzen, Pfeilen, Linien, Gitternetzwerken und einfachen Farbfeldern. Bess war von Theorien über Mythologie, Alchemie, Archäologie und Religion beeinflusst und künstlerisch inspiriert. Seine Vorstellung war geprägt von dem Gedanken, dass die Transformation von Frau und Mann in einem einzigen Körper das menschliche Leiden heilen könnte, dass der Status der Androgynität die Antipoden im Menschsein auflösen und heilsame Wirkungen erzeugen könnten. Lange vor den Gender-Debatten wurden hier Aspekte der Geschlechterdifferenz zur Diskussion gestellt und damit Fragen der Identität von biologischem und sozialem Geschlecht analysiert. Diese Utopie der Zusammenführung von Kunst und Leben, von weiblichen und männlichen Attributen, mit der Vereinigung und damit der Überwindung der Geschlechter ist auch zentraler Bestandteil der Retorten-Präsentation von Johanes Zechner.


An dieser Stelle trifft das Bess´sche Weltbild auf die Ideenwelt von Zechner, der 1998 mit keramischen Arbeiten begann. Ausgehend von einer alchemistischen Flasche, die eine geschlechtliche Genesis beherbergt, gestaltete er eine Vielzahl biomorph anmutender, geschlossener und glasierter Tongefäße, die rot-weiß gestreift sind und damit die Dualität der Geschlechter thematisieren. Als sogenannte „Retorten"-Familiengruppe finden sie vornehmlich auf Tischen ihre Anordnung. Das Geschlechtliche u nd das Geschlossene, die Familie bzw. die gruppenhafte Formation sowie die stets gleiche, rot-weiße Farbigkeit stellen in allen diesen keramischen, skulpturalen Gruppierungen eine Konstante dar. Manche der Gefäße signalisieren durch ihre phallische Erscheindung eindeutig männliche Attribute, andere sind zweifellos von weiblichen Konnotationen beherrscht. Einige davon vermitteln durch ihre Formgebung die Zwitterhaftigkeit im Sinne eines hermaphroditischen Ansatzes.

 

Zechners Malerei hat in diesen Keramikfiguren eine plastische Umsetzung der Idee einer permanenten Reproduktion gefunden. Die Entstehung dieses Werkkomplexes beschreibt Zechner folgendermaßen: „Ich wollte geschlossene, hermetische Gefäße herstellen, die einen Druckzustand suggerieren, der durch Vorgänge in ihrem Inneren hervorgerufen wird. Meine Retorten könnte man auch als biologische Maschinen ansprechen, deren gleichbleibend rot-weiß (männlich-weiblich) gestreiftes Äußeres signalhaft antwortet. (...) Ihre „familiäre“ Anordnung und Zusammenstellung kann wechseln, konstant bleibt die insgesamte Bezüglichkeit aller Retorten-Gefäße aufeinander, eine Stammeszugehörigkeit gewissermaßen.“ Im Zuge eigener familiärer Ereignisse schuf der Künstler im Jahr 2000 darüber hinaus für den Außenraum zwei monumentale Retortenskulpturen, denen er die Bezeichnung „Babuschka“ zuwies. Im Russischen bedeutet Babuschka so viel wie „Großmutter“, im Kontext des Zechner´schen Skulpturenverbundes stellen sie sozusagen die Urmütter seiner Retortenfamilie dar.

 

 

Ergänzt wird die Installation durch eine Videoarbeit mit dem Titel „David dreht“, einem filmischen Abbild einer medial geschaffenen, androgyn wirkenden Skulptur. Handelt es sich bei den skulpturalen Retorten um mit eigenen Händen geschaffene Tonobjekte, so haben wir es bei der medialen Kreation von Skulptur mit einer filmischen Schöpfung der Idee des Androgynen zu tun.

 

Die Metapher der Erschaffung von Ton- bzw. medialen Skulpturen kontrastierte Zechner bei seiner Eröffnungsperformance in Passau mit dem Zerschlagen und damit der Zerstörung von zahlreichen Keramiktellern. In der jüdischen Hochzeitszeremonie wird nach Unterzeichnung der Heiratsbedingungen (als Erinnerung an die Tempelzerstörung) ein Teller zerschlagen. In mitteleuropäischen Kulturkreisen ist dieses scherbenerzeugende Ritual bei Polterabenden seit dem 16. Jahrhundert ein glücksbringendes Zeichen. Je größer der Scherbenhaufen, desto größer das Glück in der Ehe, je lauter der dabei erzeugte Lärm, desto umfassender das Potential der Vertreibung böser Geister, die das Glück beeinträchtigen könnten. Die Metaphern der Erschaffung und der Zerstörung, der Entstehung und der Vergänglichkeit etc. scheinen nicht nur im Leben, sondern auch im Kunstschaffen abenteuerlich nahe beieinander zu liegen.

 

 

Aus: Hans-Peter Wipplinger,„Johannes Zechner. Retortenfamilien“, in Retorten, Johanes Zechner, 2002